750 Seiten mit interessanten Sätzen zu füllen ist unglaublich schwer. Ich bin jetzt auf Seite 500nochwas und hatte bis jetzt nur ein kleines Tief, wo ich dachte, „jetzt wiederholt sichs aber“, und das beschränkte sich auf die Einführungen neuer Orte, die oft anhand der Materialien der Häuser veranschaulicht werden (eine gelber Backsteinbau, das große Gebäude mit der alten Klinkerfassade usw.), von denen ich zu einigen leider keine bildhafte Vorstellung parat hatte. Ich bin ja auch kein Bauingenieur.
Jedenfalls, wenn jetzt nicht auf den letzten 200 Seiten noch was doofes passiert, ist das mein einziger – und wie ich sagen muss, wirklich marginaler – Kritikpunkt. Fantastisches Buch also. Aber warum?
Ganz einfach: Ich habe noch keinen Autor gelesen, der sich so vollständig in seine so unterschiedlichen Figuren hineinverwandeln kann. In einen dementen alten Mann, in einen jüngeren, verzweifelten Geisteswissenschaftler, in einen depressiven Banker, eine bisexuelle Spitzenköchin, einen 6jährigen Jungen, der nicht aufessen will. All diese Personen werden einem nicht nur vorgeführt, es wird nicht nur über sie berichtet, sie werden inszeniert und vorgelebt, man wird vollständig in sie hineingezogen. Es wird einem ein völlig konsistentes psychisches Innenleben vorgestellt, in dem alles zusammenpasst und dann wird man wieder hinausgeschubst in die Beobachterperspektive und erkennt die ganze Sinnlosigkeit des Handelns. Ich empfinde solche Bücher als ungemein tröstlich! Ich glaube, sie tragen – jetzt wirds pathetisch – auf gewisse Art dazu bei, dass die Menschen sich besser verstehen. Wo es einem an Empathie mangelt, hilft einem Jonathan Franzen auf die Sprünge. Was nicht heißt, dass man die Figuren sofort (oder irgendwann) ins Herz schließt, nein. Aber man versteht sie.
Es hängt natürlich ein wenig davon ab, wen unter den Literaturwissenschaftlern man fragt, aber einige sind der Meinung, dass genau das die zentrale Funktion von Literatur ist: In einem isolierten, gefahrlosen Raum die Möglichkeit zu haben, Erfahrungen zu machen, die man anderfalls gar nicht, oder nur zu einem hohen Preis machen könnte.
Ohne einen Literaturwissenschaftler zu fragen, kann ich behaupten: ich lese deswegen. Jedenfalls hauptsächlich. Aber nicht alles, was ich lese, ermöglicht mir das auch…
Ich sehe: Der Same ist gesät und hat Wurzeln geschlagen 😉
Ich stecke gerade im ersten Drittel der Korrekturen und lese strikt nicht Dein Fazit zum Buch.
Bei Franzen geht es mir auch so: Die Figuren ziehen mich in einer eleganten Bewegung in sich hinein. Lesaktive Inkorporation, vielleicht. Sehr beeindruckend.
Die Korrekturen soll ja das bessere Buch sein, mich hat Freiheit aber sehr fasziniert. Vielleicht, weil die Themen aktueller sind. Weil die Lamberts vor zehn Jahren relevanter waren, Berglunds jetzt. Jede Familie zu ihrer Zeit.
Wir sollten mal Bücher tauschen…
🙂
Ja, tauschen wir.