Geschlecht und Sprache und Medien

Wenn ich nicht einschlafen kann, guck ich was es so für Artikel auf zeit online gibt und dann lese ich die und auf Grund eines stark ausgeprägten Gestaltschließungszwanges auch die Kommentare und dann sitz ich da und kann weiter nicht einschlafen, weil ich mich über die Kommentare aufrege. Vom Kommentarelesen an sich wird ja meist abgeraten. Aber ich denke, es ist einerseits eine Übung in Demut und in Toleranz. Das Aushalten selbst verquerer Meinungen, ohne deren Besitzer sofort in Grund und Boden zu verdammen, ist ziemlich schwer – aber notwendig.

Andererseits ist es aber auch eine Übung in Logik und Argumentieren. So sind die Gedankengebäude vieler KommentatorInnen ja in sich oft stimmig und zumindest auf zeit online findet man viele davon auch weitgehend ausformuliert und um Verständnis bemüht. Und nicht selten ertappe ich mich dabei, dass ich denke „Ja, wenn man das so und so sieht, und das und das für die Wahrheit hält, dann ist das eine vernünftige Aussage“. Es sind ja nicht nur extrem rassistische, maskulinistische, von Verfolgungswahn geplagte Spinner auf solchen Seiten unterwegs, sondern durchaus auch ernsthaft besorgte, gebildete Leute.

Wenn man sich also mal ein Bild machen möchte, wovon ich hier rede, wähle man einen beliebigen Artikel auf zeit online, der – in Überschrift, Spitzmarke oder Teaser-Text – das Wort „Geschlecht“ enthält und lese anschließend die Kommentare. Den Artikel selbst kann man sich getrost sparen, darauf wird eh meist kaum Bezug genommen. Auch geeignet sind Artikel mit den Worten „Geflüchtete“ oder „Grenzen“ etc., aber die beiden Diskurse (Geschlechtergerechtigkeit und Geflüchtete) vermischen sich eh spätestens auf Seite 3 der Kommentare (Diskursverschränkung heißt das übrigens bei Siegfried Jäger, einem der Päpste der Diskursanalyse – um mal einen bißchen die Frau Doktor raushängen zu lassen).

So, zurück zum Titel dieses Blogartikels. Ich habe also Beiträge und deren Kommentare gelesen, in denen es (meist ganz entfernt) um Geschlecht ging. Der letzte war über Heiko Maas‘ Gesetzesentwurf, der sexistische Werbung verbieten soll (so der Wortlaut der Überschrift). Im Artikel steht wenig darüber, wie das Ganze aussehen soll (was zB Kriterien sein sollen, die Werbung zu sexistischer machen), was natürlich einen riesigen Raum für Spekulationen eröffnet, der dem Artikel in nicht einmal 24h über 1000 Kommentare bescherte. Selbstverständlich ging es nach wenigen Kommentaren nicht mehr um den Gesetzesentwurf, sondern um Geschlecht, Diskriminierung, Freiheit, Manipulation durch Werbung oder auch nicht und so weiter. Immer wieder ging es auch um das Problem der „Gleichmacherei“, das dem Feminismus so häufig vorgeworfen wird. Auch gerne im Zusammenhang mit geschlechtersensibler Erziehung. Ich will jetzt gar nicht näher auf die Argumente und Gedankengebäude eingehen. Mir ist nur vor allem ein Punkt aufgefallen, den ich etwas näher erläutern möchte:

Ein großes Problem für viele Kommentatoren scheint zu sein, zu akzeptieren, dass Geschlecht nicht dichotom ist. Mit anderen Worten: es gibt keine klare Trennlinie zwischen den beiden Polen der Dimension männlich und weiblich. Trotzdem gibt es eine sehr, sehr große Zahl an Individuen, die sich selbst (!) ganz eindeutig an dem einen oder anderen Ende der Skala einordnen. Wenn jemand diese Einordnung vornehmen möchte, ist dagegen auch überhaupt nix zu sagen. Sie hat eine „biologische“ Funktion (wenn man die so hoch bewerten möchte, von mir aus), in unserer Gesellschaft auch diverse soziale usw. Man MUSS sich aber auf dieser Dimension nicht einordnen und schon gar nicht von anderen einordnen lassen, denn über die Funktionen hinaus sind halt auch einige Nachteile mit der Zuordnung verbunden. Diese kann man ablehnen. Individuen in der Mitte der Skala (oder ohne Platz auf der Skala) sind genauso zu respektieren, akzeptieren und zu behandeln wie Individuen an den Enden. Wie auch immer, die Idee einer skalaren Dimension Geschlecht ist für viele Menschen nicht fassbar. Daher habe ich an einem Vergleich herumüberlegt, denn die klassischen (Körpergröße, Haarfarbe) scheinen mir nicht zu funktionieren. Vielleicht taugt ja ein Beispiel aus der Linguistik.

Früher (und auch heute noch als Laie) unterschied man dichotom zwischen mündlicher Kommunikation und schriftlicher Kommunikation. Beide Kommunikationsformen sind mit verschiedenen Eigenschaften assoziiert (wie Verdauerung, Spontanität, Informationsdichte, Distanz etc.) und ansonsten gleichwertig. Wovon das eine viel hat (z.B. Spontanität – eher mündlich, z.B. Gespräch), hat das andere wenig und umgekehrt (z.B. Verdauerung – eher schriftlich, z.B. Brief). So weit so gut und nachlesbar bei Koch/Oesterreicher (1985). Man kann einen Strich machen zwischen mündlich und schriftlich und alles auf die eine oder andere Seite packen. Und dann kamen die „Neuen Medien“ und was passierte? Auf einmal gab es Kommunikationsformen, die nicht mehr in das Schema passten. Die Leute schrieben plötzlich in Massen wenig verdauertes Zeug und das auch noch ziemlich spontan (Chat). Sie sprachen tagebuch-artige Texte in eine Kamera, die auch noch Jahre später ansehbar waren (V-logs). Und so weiter. Jetzt ist es schwierig, alle Kommunikationsformen eindeutig auf die eine oder andere Seite der schriftlich-mündlich-Skala einzuordnen, denn es gibt einen bedeutenden Teil von Kommunikation, der „irgendwo dazwischen“ liegt. Nichtsdestotrotz gibt es noch Bücher, Briefe und Gespräche von Angesicht zu Angesicht, also eindeutig zu verortende Kommunikation. Aber niemand (Vernünftiges) käme auf die Idee, Brief und Buch über Chat und V-log zu stellen oder Chatter zu zwingen, wie in Briefen zu schreiben oder sich gefälligst anzurufen.

Die Stelle, an der mein Beispiel ein bisschen hinkt, ist folgende: es gab keine „Neuen Medien“ die einen Wandel in der Geschlechterdichotomie hervorgerufen hätten. Es ist schlicht schon immer so, dass Geschlecht nicht dichotom ist. Wenn man jetzt mal die Geschichte der Kommunikationsformen genauer anschaut, wird man feststellen, dass es auch nicht erst seit dem Aufkommen der Neuen Medien Kommunikationsformen „in der Mitte“ gibt. Die Texte, die man in der Schule auf Zettelchen schrieb, um sie unter der Bank durchzureichen, hatten viele Merkmale von Chats, Anrufbeantworter gibt es nun auch schon eine ganze Weile, überhaupt das Telefon! Was sich aber geändert hat mit den Neuen Medien, ist der Blick auf die Unterscheidung von mündlich-schriftlich, allein durch das Ausmaß an neuen Kommunikationsformen. Und da gibt es wieder eine Gemeinsamkeit. Menschen aus der Mitte des Geschlechterspektrums sind sichtbarer in unserer Gesellschaft, auf Grund größerer Offenheit, auch dank der Neuen Medien usw. Man kann sie nicht mehr so einfach ignorieren oder wegdiskutieren, auch wenn das oben genannte Kommentatoren gerne versuchen.

Ein schönes und ästhetisches Beispiel für die Sichtbarmachung der Skala ist dieser Bildband:

genderspectrum

 

 

 

Ein Gedanke zu „Geschlecht und Sprache und Medien“

  1. Ich habe lange und viel drüber nachdgedacht, muss jetzt aber doch auch mal hier was loswerden: Ja! Ich glaube, wir sind da wirklich und in der Tat an einem Wendepunkt der Kulturgeschichte und vielleicht tut es genau deswegen sovielen Menschen so sehr weh. Aber die Wende die vollzogen wird, ist genau die Richtige, denn es ist genau das Gegenteil von dem, was die priviligierten Gender-Kritiker und Das-war-schon-immer-so-Angsthasen behaupten: Wir haben es keineswegs mit einer Gleichmacherei zu tun, sondern mit einer Vielmacherei. Auf der Rückseite des „Gender as a Spektrum“ Buches ist das in einem Zitat wundervoll zusammengefasst, dass ich leider nur sinngemäss wiedergeben kann …

    „Am Ende könnte es sein, dass jeder Mensch sein eigenes Gender hat.“

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